Transkription: Wissenschaft ohne Organisationszwang

Michael: Wir haben uns Wissenschaft ohne Bürokratie als Thema vorgenommen. Was gibt es dazu zu sagen lieber Klaus?

Klaus: Sehr viel! Oder besser gesagt sehr wenig eigentlich nur. Nennen wir es mal Wissenschaft ohne Organisationszwänge. Das Thema ist schon alt. Es fängt schon bei Paul Feyerabend an in Erkenntnis für freie Menschen und Wider dem Methodenzwang, wo er schon den Gedanken aufwirft, dass es eigentlich eine Trennung zwischen Staat und Wissenschaft geben müsste, durchaus analog zu der Trennung von Kirche und Staat. Diesen Gedanken hat er schon Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre aufgeworfen. Es ist klar, dass der Gedanke versickert ist, einfach aus dem Grunde, weil niemand weiß, wie es gehen könnte.

Michael: Wie hat Feyerabend sich das vorgestellt?

Klaus: Soweit ich das in Erinnerung habe hat er sich das garnicht weiter vorgestellt. Weil es auch nicht geht! Er konnte nur einen epistemologischen oder methodologischen Relativismus erklären. Es gibt keinen vernünftigen Grund ein Rationalitätsdogma in der Wissenschaft einzuführen und dieses mit Staatsgewalt zu exekutieren. Zu sagen, das Rationalitätsparadigma ist das einzig legitime Paradigma durch dass sich Wissenschaft als legitim ausweisen darf. Das sollen gefälligst, so hat Feyerabend sich das vorgestellt, die Menschen selbst entscheiden. Daher das Wort “Erkenntnis für freie Menschen”. Die Menschen selbst sollen die Wissenschaft machen. Es ist nicht so, dass die Schulmedizin, die Naturwissenschaften, die Psychologie oder diese Wissenschaften, sich dazu verpflichten müssen diesem Rationalitätszwang zu folgen. Wenn man das freigibt wird man feststellen, dass auch sehr wohl andere Formen der Wissensproduktion sehr wohl produktiv sein können. Paul Feyerabend hat sehr wohl geglaubt, denn die Erfolge der Wissenschaft sind ja auch nicht zu bestreiten, wenn es zu einer Trennung von Staat und Wissenschaft käme, die Biologie und die Naturwissenschaft die besseren Chancen hätten sich durchzusetzen. Er konnte es jedoch nicht erklären, weil er weiß, dass es über Märkte nicht geht. Märkte finanzieren keine Wissenschaft. Das geht nicht, aber der Staat kann eben nur bestimmtes exekutieren, dann nämlich nach dem Rationalitätszwang. Der Gedanke ist jedoch versickert, weil eine Alternative nirgends zu finden war. Die Frage lautet nämlich entweder oder: Entweder Staat oder Markt. Meine Betrachtungsweise würde lauten: Weder Staat noch Markt! Weder das eine noch das andere ist die Voraussetzung dafür, dass eine Wissenschaft funktionieren kann. Weder Organisationszwänge des Staates, noch die Kapitalzwänge der Märkte sind ausreichend um die Voraussetzungen zu liefern für ein gelingen von Organisation ohne Organisationszwänge. Aber die Voraussetzungen selber müssten eben durch eine Wissenschaft die frei ist von solchen Organisationszwängen selbst erarbeitet werden. Es ist nicht etwa so, dass diese Voraussetzungen da sind und die irgendjemand erfinden kann. Du kannst nicht einfach zum Patentamt gehen und sagen “Hier, ich melde die Voraussetzungen an.” und dann gibt es sie. Sie müssen selbst erarbeitet bzw. erforscht werden.

Michael: Du hast in einem Tweet gefragt, was man beobachten, erkennen und weitervermitteln könne mit einer Wissenschaft ohne Bürokratiezwang. Hast Du darauf eine Antwort?

Klaus: Das sind Spekulationen. Ich denke da vor allem darüber nach, welche Schwachstellen die Gesellschaft gegenwärtig hat, die Scheitern vorhersehbar machen. Das sind die Schwachstellen, wo die moderne Struktur der Wissensproduktion ihre eigene Inkompetenz beweist. Es ist klar, dass die moderne Wissenschaft sehr kompetent ist und viel kann, das ist nicht zu bestreiten. Aber sie kann nicht alles!

Michael: Was kann sie nicht?

Klaus: Du siehst zum Beispiel an den Universitäten die Frage der Unterscheidung von Zitat und Plagiat. Sie kommen damit nicht zurecht. Sie können das nur in Verwaltungszwänge überführen und nach einer mathematisch plausiblen messbarkeit der Identität von Zeichenketten sprechen, wenn es darum geht ein Zitat oder ein Plagiat zu beschreiben. Das, worum es geht, das Wissenschaftliche daran, können sie nicht mehr ausdrücken. Sie können über die wissenschaftlichkeit eigentlich nicht reden. Sie können zum Beispiel nicht darüber reden, dass das Plagiieren eine wissenschaftliche Leistung ist. Schwachstellen zeigen sich in der Gesellschaft da wo Obsönitäten oder Abwehrreaktionen auffällig werden. Etwa Raubkopien, der Ideenklau… häufig wird mit Sanktionen und Verboten reagiert, mit Marginalisierungen und Bagatellisierungen. Mit irgendeiner Art von Vermeidungsverhalten.

Michael: Es geht also nicht nur um eine Wissenschaft, die frei ist von Organisationszwängen, sondern um alle Arten von Organisationszwängen?

Klaus: Wie das häufig eben so ist hängen diese Dinge miteinander zusammen. Welches könnten die Erkenntnisprobleme einer Wissenschaft sein, die von Organisationszwängen frei ist, bzw. die Organisationszwänge abschaffen kann durch den Vollzug der Organisation? Es geht um Schwachstellen der Gesellschaft, über die wir nur schwer reden können. Inkommunikabilitätsprobleme wie zum Beispiel die Frage von Wert- und Geringschätzung von Personen. Wir würden ja wenn wir über Wertschätzung und Geringschätzung von Personen sprechen in der Regel Zudringlichkeiten oder Zumuten und Erwartungen an Identität richten. Wenn wir zum Beispiel sagen, Michael: “Ich finde dich irgendwie toll.”, dann würdest du das zuerst als eine Aussage von mir über dich wahrnehmen und nicht zuerst als eine Aussage von mir über mich selbst. Du kennst ja diesen schönen Satz von Paul Watzlawick: “Was Peter über Paul sagt, sagt viel über Peter und manches über Paul.”. Wir ordnen das in der Regel zunächst mal so, dass wenn ich sage: “Ich finde dich total nett”, dies als wertschätzende Aussage von mir zu werten, obwohl es eigentlich mehr über mich aussagt, denn du könntest dich auf den Standpunkt stellen von Groucho Marx: “Ich würde keinem Club angehören wollen, der mich als Mitglied aufnimmt.”. Andersherum auch, wenn ich zu dir sage: “Michael, du bist ein ziemlicher knallkopp.”, dann könntest du sagen, dass ich das offensichtlich sagen muss und nicht anders darüber urteilen kann. Wir können diese Dinge nicht versachlichen. Überall dort wo Versachlichungsleistungen verhindert, blockiert oder erschwert werden. Das geschieht etwa in Fragen des Datenschutzes. Auch beim Thema sexuelle Belästigung. Etwa wenn unterstellt wird, dass es bereits immer schon klar wäre worum es geht, wenn über sexuelle Belästigung gesprochen wird. Die Schwierigkeit der Kommunikation zeigt, dass es nicht immer schon klar ist worum es geht, was das ist, wie das aussieht und welche Folgen das hätte. Das widerum ist nur schwer kommunikabel zu machen, daher würde ich sagen, es gibt hier eine Schwachstelle. Was wir sehr schwer hinbekommen sind etwa Differenzierungen, die uns erlauben würden Personen als Perspektivität statt als Identität aufzufassen. Das hängt damit zusammen, dass wir Erwartungen an Inklusion stellen und damit auch Lebenschancen. Vor diesem Hintergrund treffen Beleidigungen oder Geringschätzungen auf wunde Punkte und auf vertuschendes, verheimlichendes oder verdeckendes Verhalten.

Michael: Liegt das vielleicht daran, dass die Differenzierungsleistungen zu komplex sind und sich darauf nicht geeinigt werden kann?

Klaus: Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass es sich um eine Inkompetenz handelt, die sich eine soziale Struktur einhandelt, die auf der anderen Seite eine andere Art von Kompetenz im Laufe von 200 oder 300 Jahren erlernen musste. Welche besondere Kompetenz hat die moderne Gesellschaft, gerade über die Form der Vergesellschaftung, Zustande gebracht? Es ist genau die Auflösung von Ständen, von traditionellen Gemeinschaften, von Zwängen durch Familie und Verwandtschaft, von Standesbewusstsein. Damit wurden Handlungen freigesetzt und jetzt auf einmal konnte erkennbar werden, dass es keineswegs so ist, dass Gott dich an eine bestimmte Stelle gesetzt hat, an der du für den Rest deines Lebens bleiben musst. Stattdessen kannst du Karriere machen, auch wenn du ein Frankfurter Droschkenkutscher gewesen bist. Auch wenn du in deiner Jugend Steine geschmissen hast kannst du Außenminister werden. Dem Menschen sollen viele Lebenschancen geboten werden, damit er wählen kann, wird gesagt. Diese Kompetenz ist, ohne über Datierungsfragen streiten zu wollen, vor 200 bis 250 Jahren entstanden. Das funktioniert nicht überall sehr gut, aber auch nicht überall sehr schlecht. Natürlich gibt es auch noch immer versuche, Distintionsgrenzen zu verteidigen, aber in dem Bereich, der sich soziale Mobilität nennt, hat die Gesellschaft eine beeindruckende Kompetenz entwickelt. Auf der anderen Seite dieser Entwicklung hat sich eine bestimmte Inkompetenz eingeschlichen. Jetzt auf einmal kommt Identität als etwas vor, das als selbstverständlich genommen wird und die Perspektitivät selber kann nur schwer diskutiert werden. Perspektivität bedeutet, du bist nicht einfach, wie du bist. Wenn ich etwas über dich sage trifft dich das nicht überall in deiner ganzen Personenhaftigkeit, sondern nur in einer Hinsicht: Sofern ich es von dir weiß. Vielleicht kann man das an einem schönen Beispiel erklären. Ein Bekannter von mir arbeitet seit kurzem in einem Industrieunternehmen. Der Geschäftsführer dieses Unternehmens ist dafür bekannt Leute anzupampen aus nichtigem Grunde, ist also so etwas wie ein Charakterarschloch. Wegen Kleinigkeiten war er unfreundlich zu den Leuten, hat diese angeschnauzt und zwar alle. Mein Bekannter hat das erfahren und fand das zunächst schockierend. Typischerweise war sein erstes Urteil, seinen Chef als Arschloch zu bezeichnen. Er hat das mit seinen Kollegen besprochen, die alle das selbe sagten, was klar ist, weil der Chef sich zu allen so verhalten hat. Dann aber hat mein Bekannter im Laufe eines halben Jahres angefangen zu prüfen, nach welchen Maßstäben der Chef handelt und festgestellt, dass dieser Chef eigentlich nichts anderes tut als mit durchaus rabiaten Mitteln die vertraglichen Verpflichtungen durchzusetzen, auf die sich die Beteiligten eingelassen haben. Die vertragliche Verpflichtung lautet, die Arbeit gründlich, pünktlich und zuverlässig zu verrichten, um dafür bezahlt zu werden. Darauf haben sich alle Arbeitnehmer verpflichtet. Mein Bekannter hat festgestellt, dass immer wenn er genau das erfüllt hat, er Ruhe vor dem Chef hatte. Es war also nicht so, dass der Chef Schikane betrieben hätte, etwa indem er einen Auftrag erteilt und gleichzeitig verhindert hätte, dass dieser erfüllt werden könne, sondern er hat nur gesagt: Erfülle den Auftrag und dann ist es gut. Dadurch hat mein Bekannter gelernt, dass im Grunde genommen das Verhalten des Chefs zwar scheiße ist, aber es ist juristisch völlig korrekt, weil er nichts anders will, als dass sich alle auf ihre vertraglich zugesicherten Verhalten einstellen. Mein Bekannter hat daraufhin seine Kollegen beobachtet und festgestellt, dass diese das nicht immer tun. Sie hielten es nicht für selbstverständlich, ihre vertraglichen Verpflichtungen einzuhalten. Dadurch konnte er langsam lernen den Chef auch in anderer Hinsicht wahrnehmen. Das Verhalten des Chefs war demnach oftmals auch berechtigt. Das als Beispiel dafür, wie man lernen kann, Menschen in ihrer Perspektivität, statt Identität wahrzunehmen. Die Kollegen, mit denen mein Bekannter über seine Standpunktänderung sprach, reagierten erbost und empört und verdächtigten meinen Bekannten das üble Verhalten des Chefs zu verteidigen. Die Kollegen mieden meinen Bekannten und hielten ihn für einen Verräter, der sich bei dem Chef lieb Kind machen will, was natürlich nicht stimmt. Diese Geschichte erzählt einen Schwachpunkt. Man merkt, dass der Schwachpunkt darin besteht, dass viele Dinge passieren über die man nicht reden kann, weil die Perspektivität der Person, statt der Identität eine Rolle spielt.

Michael: Um den Punkt nochmals mit meinen eigenen Worten zu wiederholen: Während der Zeit der ständischen Gesellschaft wurden die Bedingungen dafür, dass Menschen in die Lage versetzt werden zu Handeln im Stand verortet, während es heute in Form von subjektiven Zuschreibungen auf Personen erfolgt, was so weit geht, nicht mehr in der Lage zu sein über die subjektiven Möglichkeiten der Person hinwegzusehen und die Bedingungen des Handelns zu berücksichtigen.

Klaus: Wir haben uns eine bestimmte Kompetenz eingehandelt, die darin besteht, Personen als Identität zu behandeln und gleichzeitig eine Inkompetenz, die darin besteht, Personen als Perspektivität aufzufassen. Wir bekommen das schwer differenziert, weil wir in unseren Selbstverständlichkeiten von einer Wahrnehmung der Identität ausgehen.

Michael: Du hast bereits die Frage aufgeworfen, wie wir seit dem Internet übereinander informiert sind. Das wäre dann vielleicht die nächste Frage.

Klaus: Ich glaube dass das ein ganz wichtiger Punkt ist. Für den Hausgebrauch könnte man Kultur so definieren, dass es sich um die Art und Weise handelt, wie Menschen übereinander informiert sind. Auch dann, wenn sie sich nicht kennen. Das, was wir selbstverständlich annehmen können und worauf wir uns ansprechbar machen und andere ansprechen können, ohne darüber nachzudenken, warum das so ist. Das heißt, das Selbstverständliche ist Kultur. Du kannst dir ganz einfach vorstellen, über die Straße zu gehen, den Weg verloren zu haben und einen Fremden nach den Weg zu fragen. Da spielt Kultur eine Rolle. Du kannst annehmen, dass der Fremde die deutsche Sprache spricht, dass er dir die Wahrheit sagt, wenn du ihn fragst, dass der andere widerum deine Ansprache nicht für eine Zumutung hält… dass er nicht wegläuft und dass er keine Angst vor dir haben muss. All diese Dinge sind Selbstverständlichkeiten, die wir annehmen. Diese Selbstverständlichkeiten werden auffällig, wenn du es mit Ausländern zu tun hast, weil dann klar wird, dass viele Dinge nicht selbstverständlich sind. Vielleicht in Fragen der Mülltrennung, oder sich Lustig machen über Deutsche, die weiße Socken mit Sandalen tragen. Das ist Kultur: Die Art und Weise, in der wir glauben können übereinander informiert zu sein, auch dann, wenn wir uns nicht kennen. Wenn diese Selbstverständlichkeiten aufbrechen entstehen Fraglichkeiten. Wir können dann nicht mehr mit Selbstverständlichkeit fragen, wie wir übereinander informiert sind. Dann geschieht kultureller Wandel, dann geschieht das, was man Paradigmenwechsel nennt. Es kommen dann Dinge in Bewegung, Selbstverständlichkeiten tauchen dann erstmal auf und werden in Frage gestellt. Denn über Selbstverständlichkeiten lässt sich zunächst nicht reden, weil man das auch garnicht braucht. Erst in dem Moment, in dem man über Selbstverständlichkeiten spricht, stellt man fest, dass es nicht, oder nicht mehr, selbstverständlich ist. Dinge werden fraglich. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass das Internet, insbesondere dieses Social Media, eine Zersetzungsmaschine ist. Die Zersetzt unsere Selbstverständlichkeiten. Sie zerbricht die Struktur, die doppelt kontingentes Informiertsein voraussetzen kann. Dann kann ich mir durchaus vorstellen, dass in dem Augenblick eine andere Art von Ordnung möglich wird, die aber unvorhersehbar ist. Wir können uns auf andere Weise in Kommunikation verwickeln. Wir haben zunächst mal keine besonderen Gründe miteinander zu sprechen, ob per Twitter oder per Facebook. Es gibt keine Notwendigkeiten, es hat zunächst mal einen spielerischen Charakter. Wir haben keine gemeinsamen Unternehmen, keine gemeinsamen Projekte, keine gemeinsamen Aufträge zu erfüllen. Wir verwickeln uns mit Unbekannten in Gespräche, in Kommunikation, in was auch immer und am Ende ist eigentlich alles egal. Das ist gegenwärtig der Punkt, weil die entscheidenden Dinge passieren Zuhause, da wo du über Organisationen in Gesellschaft verwickelt wirst. In erster Linie Zuhause, in der Nachbarschaft, bei der Arbeit, im Büro oder sonstwo. Da entscheiden sich die wichtigen Dinge für unser Leben. Nicht etwa bei Twitter. Aber es kann sein, dass genau der Unterhaltungscharakter und die Unverbindlichkeit zum Anziehungspunkt wird und die Frage aufkommt, ob wir uns nicht genau dadurch aus den Zwängen befreien, indem wir andere Dinge für möglich halten.

Michael: Ich kann mir das vorstellen. Gerade in Bezug auf doppelte Kontingenz und Kultur erfährt man über das Internet plötzlich Dinge, die man vorher nicht hätte herausfinden können über andere Personen, jedenfalls nicht auf die gleiche Art und Weise.

Klaus: Vielleicht springen wir gleich mal zu der Sache mit Claudius Holler, die in diesem Zusammenhang interessant ist. In der Regel kannst du anderen Menschen vermitteln, dass du solidarisch handeln möchtest, indem du in der Familie, im Kollegenkreis, im Verein oder in der Nachbarschaft, jemandem Geld gibst und ihn darauf hinweist: Hier hast du Geld, komm ich helfe dir.

Michael: Lass uns erst noch erklären, worum es bei Claudius Holler geht und was in diesem Zusammenhang vorgefallen ist.

Klaus: Claudius Holler ist ein junger Mann, ca. 30 bis 40 Jahre alt, der ein Unternehmen geführt hat, das unverschuldet in Schwierigkeiten gekommen ist. Er musste eine radikale Kostensenkung durchführen, was auch dazu geführt hat, dass er sich selber kein Gehalt mehr auszahlen konnte und auch keine Krankenversicherung mehr hatte. Dann erhielt er die Mitteilung, dass er Hodenkrebs hat. Er hatte keine Krankenversicherung, also hat er sich per Twitter an alle gewendet und mitgeteilt, dass er Geld benötigt. Es war ein Hilferuf, eine Bitte. Das interessante ist, dass es funktioniert. Wenn 1000 oder 2000 Leute jeweils 10 Euro geben ist das jeweils nicht viel für den Einzelnen aber 1000 oder 2000 mal 10 Euro sind eben doch recht viel. Dieses Beispiel will ich mal nehmen, denn welche Möglichkeiten hast du ohne Social Media mir über deine Solidaritätsbereitschaft Auskunft zu geben? Das kannst du eigentlich nur, indem du durch Interaktion, also durch Gespräche im Privaten Kreis oder im beruflichen Kreis, Leuten hilfst, wenn sie dich darum bitten. Oder auch dann, wenn sie dich nicht darum bitten, du aber wissen kannst, dass sie Hilfe brauchen. Mehr geht eigentlich nicht, weil du kaum die Möglichkeit hast, Unbekannten Geld zu geben. Du hast dafür auch garkeinen Grund. Du kommst nicht auf die Idee, einfach mal 10 Euro zu verschenken zu haben. Warum auch. Das ist blödsinn. Daraus kann man nun nicht ableiten, dass Menschen von Natur aus egoistisch sind. Wie willst du Bereitschaft zu Solidarität kommunizieren? Du kannst es eigentlich garnicht, oder sagen wir nur in sehr begrenztem Umfang. Jetzt auf einmal mit Twitter geht das. Es geht also etwas, das vorher nicht möglich war. Jetzt auf einmal stellst du fest: Da ist einer, der braucht Geld. Du könntest ihm nun also 20 Euro geben. Damit kann er natürlich nichts anfangen, deshalb würdest du sie ihm auch nicht geben. Er braucht 10.000 Euro, die du ihm aber nicht geben kannst. Du stellst aber fest, dass das Video von Claudius Holler tausendfach weiterverbreitet wird. Dadurch kannst du jetzt annehmen und feststellen, dass du einer von Tausend bist, wodurch es dann auch keinen guten Grund mehr gibt, deine 10 Euro, die du geben kannst, zu behalten. Du kannst also etwas leisten, was du vorher nicht leisten konntest, nämlich Solidarität mit 10 Euro. Du kannst auch feststellen, dass andere Leute so, oder so ähnlich denken, jedenfalls könnten sie so, oder so ähnlich denken, weil sie ihre Wertschätzung für das Anliegen ebenfalls mitteilen per Twitter. Du kannst einem völlig Unbekannten also jetzt 20 Euro geben. Solidarität braucht keineswegs notwendigerweise Zwang, etwa durch eine Zwangsversicherung. Dass wir eine Zwangsversicherung haben hängt nur damit zusammen, dass wir auf dem Weg der Herausbildung die Zumutungen erfahren haben, die damit verbunden sind, nämlich dieses vollständig korrupte System der Zwangsversicherungen. Das heißt jedoch nicht, dass die meisten keine Bereitschaft zur Solidarität hätten, sondern lediglich nicht die Möglichkeit hatten auserhalb eines sehr begrenzten Bekanntschaftsverhältnisses mit Anderen Solidarität zu kommunizieren.

Michael: Ich bin davon noch nicht so sehr begeistert ehrlich gesagt. Es kommt mir nach einer sehr marktwirtschaftlichen Argumentation vor. Hätte tatsächlich jeder auch die Möglichkeit, diese Bitte an die Öffentlichkeit zu richten? Das Unternehmen von Claudius Holler hat wohl auch früher schon Barcamps gesponsert, er war auch damit wohl schon in hohem Maße vernetzt und vielleicht auch vergesellschaftet durch massenmediale Kommunikation. Auch musste er in Form eines Videos einen öffentlichen Offenbarungseid leisten.

Klaus: Was dieser Claudius Holler gemacht hat ist natürlich keine Wahl, die jedem Beliebigen genauso möglich ist. Du musst überhaupt erst auf die Idee kommen, soetwas zu machen. Du musst auch ein Vertrauen in das Geschehen haben. Claudius Holler hatte dies, weil er bereits Crowdfunding und dergleichen gemacht hat. Dann ist er auf die Idee gekommen, warum eigentlich nur wenn es darum geht ökonomische Zwecke zu erreichen. Warum nicht auch, wenn ich die Waffe an den Kopf gehalten bekomme. Er hat sein Leben zu verlieren und zu gewinnen hat er mehr als nur Gesundheit. Was ich daran interessant finde ist das Gelingen. Der Fall zeigt nicht, dass das immer so gehen muss, das glaube ich nicht. Es wird allerdings etwas erkennbar, das ohne Social Media nicht erkennbar war. Du konntest nicht Solidarität mit Unbekannten zeigen, bis auf seltenste Ausnahmen. Jetzt geschieht, dass Solidarität kommunikabel werden kann. Das hat etwas innovatives. Ein interessantes Problem das jetzt auffällig werden könnte ist, ob sich durch Selbstorganisation so eine Art Krankenkassenverfahren herstellbar machen könnte. Nicht dass ich wüsste, wie das geht. Ich glaube nicht, dass es geht, indem jeder sagt, er brauche Geld. Zunächst aber wird dieses Problem auffällig, weil an Einzelnen Fällen etwas erkennbar wird durch Social Media. Soetwas könnte ich mir auch für Wissenschaft vorstellen. Ich kann mir vorstellen, dass Krankenkasse ohne Organisationszwänge möglich sein könnte. Ich weiß zwar nicht wie, aber ich könnte mir vorstellen, dass es irgendwie geht. Dann kann ich mir auch disziplinierte Wissensproduktion ohne Organisationszwänge vorstellen. Was auch immer man darunter verstehen möchte. Ohne Disziplin geht es nicht, nur welche Art von Disziplin ist fraglich.

Lass uns zum Lehrer – Schüler Verhältnis übergehen. Was kann man lernen? Sagen wir mal ein Schüler geht sechs Jahre zur Schule. Er muss da hingehen, er kann nicht einfach sagen, dass er da nicht hingeht. Er lernt Lesen und Schreiben und der Lehrer bekommt dafür Geld. Es ist doch eigentlich evident, dass der Lehrer nicht lehren könnte, wenn der Schüler nicht lernen wollte. Der Schüler könnte nicht lernen, wenn der Lehrer nicht lehren wollte. Die haben sich gegenseitig zur Voraussetzung, die brauchen sich gegenseitig. Aber nur der Lehrer bekommt Geld in Form seines Gehaltes dafür. Beim Schüler wird gesagt er bekommt Unterricht und habe davon etwas, aber das stimmt nicht. Das kann er spätestens dann feststellen, wenn er aus der Schule herauskommt. Wenn er dann nämlich etwas hätte, dann hätte er ja eine Arbeitsstelle, oder eine Ausbildungsstelle, oder ein Studium. Das bekommt er nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Der Lehrer hat ganz sicher ein Gehalt, aber der Schüler hat vielleicht etwas davon. Also nur vielleicht. Auffällig wird das etwa in Spanien beim Thema Jugendarbeitslosigkeit. Da zeigt sich auf einmal, dass das Lehrer-Schüler Verhältnis nicht so normal ist, wie man das immer meint. Es stimmt garnicht, dass die Ausbildung die ein Schüler verhält sein Vorteil ist. Er bekommt schlicht nichts. Was macht ein Schüler eigentlich, wenn er zur Schule geht? Er arbeitet. Die Arbeit besteht darin, die Reproduktion der Gesellschaft zu garantieren. Dafür arbeitet der Schüler und engagiert sich. Bekommen tut er dafür nichts. Der Lehrer engagiert sich auch dafür und dafür soll er auch etwas bekommen, aber wieso soll der Schüler nichts erhalten? Gegenwärtig wird darauf geantwortet, dass es anders nicht ginge. Das stimmt auch. Schule wird über Staat organisiert, man sieht an Entwicklungsländern, dass es nicht so einfach ist Schulunterricht zu organisieren, weil die ganzen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Bei uns wird dann eben gesagt, anders ginge es nicht. Was wäre, wenn man dieses Lehrer-Schüler Verhältnis über Social Media anders einrichten könnte? Mir ist zum Beispiel die Idee gekommen, dass ich Sprachunterricht für Flüchtlinge anbieten könnte. Ich könnte mich per Social Media an alle wenden und sagen, die Stunde kostet 50 Euro. 25 Euro davon bekommt der Schüler. Normalerweise würde man ja sagen, der Schüler bezahlt den Unterricht. In diesem Fall Sprachunterricht. Kann man das nicht mal anders machen? Ich habe einen Schüler, der Deutschunterricht haben möchte und wende mich an alle anderen.

Michael: Interessant daran finde ich, dass ein Dritter ein Interesse daran haben muss, dass einer unterrichtet wird und einer unterrichtet. Wieso sollte dieser Dritte, wenn er das Interesse daran hat, also nicht auch dafür bezahlen. Es könnten ja beispielsweise auch Unternehmen dafür bezahlen, dass Wirtschaftsingenieursstudiengänge finanziert werden und Studierende Geld dafür bekommen, wenn es denn unbedingt nötig sei, mehr Studierende in diesem Bereich zu haben. Das würde dann vielleicht auch verhindern, dass Studienreformen eingeführt werden für Bedingungen, die vor zehn Jahren vielleicht aktuell waren.

Klaus: Meine Idee war, wie bei einer Art Crowdfunding Kampagne ein Video mit dem Schüler zusammen zu machen in dem wir uns gegenseitig vorstellen und was wir wollen und dann sagen: Gebt uns Geld. Man könnte sich schnell ausrechnen wieviel Geld man bräuchte für ein Sprachkurs mit 100 Einheiten zu 45 Minuten zu je 50 Euro. Das wäre das Geld, dass man einspielen müsste. Damit würden wir uns nicht bereichern, weil sich ja beide dafür engagieren, Integration durch Lehren und Lehren geschehen zu lassen. Welchen Vorteil die anderen davon hätten spielt erstmal keine Rolle, sondern zunächst nur, dass sie sehen und beobachten wollen, dass es gelingt. Wenn man ökonomistisch darüber nachdenken möchte würde man sagen, die Leute handeln nur nach ihrem Vorteil, aber das tun sie nicht. Wenn sie nur nach ihrem Vorteil handeln würden, würden die einfachsten Dinge in der Gesellschaft nicht passieren. Gesellschaft gelingt gerade weil, die Suche nach dem Vorteil nur eine Möglichkeit ist. Sie kann manchmal eine wichtige sein, aber in den allermeisten Fällen denkst du über die Frage, ob du durch dein Handeln irgendwelche Vorteile hast, nicht nach. Du würdest dabei verrückt werden, weil du auch garnicht immer wissen kannst ob etwas für dich ein Vorteil ist. Ich kann mir durchaus vorstellen Social Media dafür zu nutzen, ein Lehrer-Schüler Verhältnis auf andere Beine zu stellen. Der Lehrer tut etwas, der Schüler tut etwas, beide engagieren sich für das Gelingen. Alle anderen werden gebeten, das durch eine Geldgabe zu fördern. Ich weiß nicht ob soetwas gelingen kann, ich wäre froh, wenn das irgendjemand mal ausprobieren würde.

Michael: Meiner Beobachtung nach ist Unterrichten mit geringen Kosten verbinden und viele Menschen bilden sich ein, unterrichten zu können, weshalb es eigentlich ein starkes Überangebot an Unterricht gibt. Egal ob es sich um Unterricht für Flüchtlinge handelt. Genauso in Universitäten und Schulen. Nachhilfeunterricht existiert massenweise, weil sich jeder einbildet etwas unterrichten zu können. Daher bin ich skeptisch, ob es an Sprachunterricht für Flüchtlinge wirklich großen Bedarf gibt. Es gibt mehr Lehrer, als Bearf nach Lehrern herrscht. In Kleinanzeigen in Zeitungen oder Schwarzen Bretern an der Uni, überall wird Nachhilfe angeboten. Jeder kann sich in eine Bibliothek mit jemanden setzen oder jemanden zu sich nach Hause einladen und Unterricht erteilen. Das ist sehr einfach umzusetzen und erfordert kein großes Können. Nachhilfe ist sehr einfach organisier- und durchführbar und wird meiner Beobachtung nach auch für Flüchtlinge schnell eingerichtet und angeboten. Stellt also im Gegensatz zu vielen anderen Sachen wie Krankenkassenkassenversicherung oder Wohnungen für Flüchtlinge ein sehr viel geringeres Problem dar. Was aber natürlich nicht heißt, dass man das nicht ausprobieren könnte. Es bildet sich nur jeder ein, unterrichten zu können und es ist auch schwer nachzuweisen, dass das nicht der Fall ist.

Klaus: Da hast du Recht. Vielleicht könnten auch gerade durch Social Media solche Bewertungsfragen anders behandelt werden. Bewertungsfragen spielen auch beispielsweise in der Wissenschaft eine große Rolle. Die Bewertungsfrage lautet etwa, was es besagt, wenn du einen Aufsatz oder eine Hausarbeit geschrieben hast. Das ist eine Bewertungsfrage. Ich habe es im Studium so erlebt, dass den Professoren ziemlich egal war, was ich geschrieben habe. Das war denen egal, weil es sie nicht interessierte. Sie waren froh, wenn sie das wieder los waren. Das habe ich immer dann gesehen, wenn sie auf den ersten zwei Seiten noch Kommafehler fanden, auf den hinteren Seiten dann aber nicht mehr. Da waren noch immer Kommafehler, aber das haben sie dann schon nicht mehr gelesen. Das hat sie nicht mehr interessiert, also haben sie das nur noch überflogen. Ich hab das methodisch ausprobiert, indem ich quatsch geschrieben habe. Das war ihnen egal. Ein Erlebnis hat mich schwer beleidigt. Ich habe sehr spät noch das Nebenfach Geschichte gemacht, was sehr aufwendig war. Es war fast so aufwendig wie mein Hauptfachstudium, was dazu führte, dass ich in meinem Hauptfach schon im Examenskolloquium und im Nebenfach noch im Proseminar Geschichte saß. In diesem Proseminar habe ich eine Arbeit schreiben müssen, in der es um Kriegsziele des ersten Weltkrieg ging. Mir wurde die Hausarbeit zurückgegeben, für die ich mir richtig Gedanken gemacht hatte, mit den Worten: “Naja, das Handwerkszeug verstehen Sie aber nicht so richtig. Zitierfehler hier, Zitierfehler da. Wie man richtig zitiert können Sie wohl nicht richtig.”. Ich wusste schon wie das richtig geht nur sagt ja jeder etwas anderes. Das hat mich genervt, weil ich wirklich darüber nachgedacht hatte über Frisch Fitzer und die Fischer-Kontroverse. Von mir wurde verlangt, die Arbeit nochmal zu machen. Über das was ich geschrieben habe, wurde kein Wort verloren. Dann habe ich nochmal eine Arbeit geschrieben, in der ich ziemlich Mist fabriziert habe, aber ich habe irgendwelchen Quatsch zitiert, den es überhaupt nicht wirklich gab. Ich habe Zitate verdreht und verändert, richtig mutwillig, aber die Notation habe ich exakt gemacht. Dann ging ich zum Dozenten ins Büro und er grinzte mich an wie ein Honigkuchenpferd und sagte ganz nett zu mir: “Sehen Sie, Sie können es doch!” Dem wollte ich am liebsten ins Gesicht springen. Das hat meine Intelligenz beleidigt. Das sind so Bewertungsfragen. Da merkt man eben, für mich damals sehr schmerzlich, das sie weder interessiert was Studenten abgeben und dass sie es auch nicht bewerten oder beurteilen können und auch nicht wollen. Nur so erkläre ich mir dann auch diese ganzen Plagiatsaffären, die Leute lesen es nicht mehr und können auch nicht mehr unterscheiden wer was zitiert hat und können es nicht mehr beurteilen und wollen es auch nicht wissen. Diese Bewertungsfragen sind eingelassen in die Organisationszwänge der Universität. Es geht eigentlich nur darum sich aus diesen Zwängen zu befreien und das geschieht indem man irgendetwas macht um die Zeit verstreichen zu lassen. Ähnlich wie man im Fernsehen nur noch redet um die Sendezeit verstreichen zu lassen. Nach einer Woche, nach einem Jahr, nach einem Semester fängt man dann mit allem wieder von vorne an. Hauptsache man kriegt es vorbei. Diese Bewertungsfrage führen dann eben dazu, dass, wie du sagtest, jeder Dummkopf kommen kann und sich Lehrer nennen kann. Klar, wir können das nicht gut bewerten. Das hängt damit zusammen, dass wir in unserem Verhaltensprogramm durch diese Organisationszwänge trainiert sind. Uns fehlen Vergleichsmaßstäbe. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass durch Social Media neue Erfahrungshorizonte sich bilden.

Michael: Soweit also zur Frage, wie wir seit dem Internet übereinander informiert sind, auch wenn wir uns nicht kennen. Wir wissen es eigentlich nicht.

Klaus: Welche Erwartungen können wir einander richten, die immer etwas bestimmtes erwartbar machen. Diesem Verhaltenstraining sind wir unterworfen. Was ist, wenn wir jetzt auf einmal lernen, dass wir uns auf Erwartungen einrichten, wo bestimmtes eigentlich garnicht verlangt ist.

Michael: Du machst ja auch seit geraumer Zeit Experimente auf Twitter. Gestern Abend habe ich etwas eines beobachtet. Du versucht Leute in Kommunikation zu verstricken und testest was dabei herauskommt. Ich konnte nicht genau beobachten, was nun genau dabei herauskommt.

Klaus: In den allermeisten Fällen nichts. Die Leute sagen ihre Meinungen. Die Internettrollerei fängt damit an, dass sich die Unhaltbarkeit der eigenen Meinung ankündigt und andeutet und in dem Augenblick in dem das geschieht wird dem anderen Geringschätzung entgegengebracht. Ergebnis ist, dass die Rationalität stirbt, aber die Kommunikation weiter geht. Neulich habe ich das gelegt, als eine Twitternutzerin, der ich schon seit ein paar Jahren folge, bei Facebook eine Jammermitteilung geschrieben hat, in der es darum ging wie schlimm es sei, dass einige Leute die sie nicht kennt sie beleidigen. Ich habe sie dann in Kommunikation verwickelt, indem ich ihr permanent Fragen gestellt habe und sie in ihre eigenen Widersprüche verwickelt. Mir war klar, worauf es hinausläuft. Ich musste nur hartnäckig genug Fragen stellen. Ich war nicht anderer Meinung, sondern ich habe immer nur wieder gefragt. Irgendwan kappierte sie nicht mehr, was denn mein Fragen eigentlich noch soll, weil sie ihre eigenen Widersprüche bemerkte, denn meine Frage war, warum sie eigentlich glaubt, ihre Meinung sei für andere wichtig. Sie antwortete, dass ihre Meinung garnicht wichtig sei für andere. Aber wenn die eigene Meinung garnicht wichtig sei für andere, was denn dann, weshalb dann das Kundtun. Ihre Meinung sei für sie selber wichtig, antwortete sie. Wenn sie aber doch nur für sie selber wichtig sei, was geht mich das dann an? Irgendwann hat sie, verständlicherweise, nicht mehr begreifen können, weshalb ich so dumme Fragen stelle. Es blieb ihr nichts anderes übrig mitzuteilen, dass das was ich schreibe genau diese Internettrollerei ist. Soetwas unproduktives wie mit mir hätte sie mit den dümmsten Internettrollen noch nie diskutiert. Prombt kommt die Geringschätzung. Sie merkte ihre eigenen Widersprüche und die Unhaltbarkeit ihrer eigenen Meinung und prombt kommt Geringschätzung gegenüber dem anderen, um dann die Struktur zu retten. Um die Selbstwertschätzung, oder wie auch immer man das nennen möchte, zu retten.

Michael: Ich wundere mich, dass das immer wieder gelingt und frage mich, weshalb sich Leute auf diese Art und Weise in Kommunikation verstricken lassen. Wieso ist denen nicht klar, was da passiert und worauf das hinausläuft? Es ist ja absehbar und funktioniert immer wieder. Wieso passiert da nichts intelligenteres?

Klaus: Ja! Dazu müssten wir nochmal ein separates Gespräch machen. Darüber denke ich sehr viel nach, etwa beim Spazierengehen immer.

Michael: Andererseits, hin und wieder passiert ja doch immer wieder etwas nettes. Wenn ich etwa sehe, dass du erfolgreich nach Übernachtungsmöglichkeiten fragst, wenn du zu einem Vortrag fährst, oder auch dass wir uns jetzt unterhalten, empfinde ich als positiv.

Klaus: 2013 habe ich soetwas das erste mal erlebt. Ich wollte zur re:publica fahren und habe auf Twitter nach einer Übernachtungsmöglichkeit gefragt. Es hat sich jemand gemeldet, den ich nicht kannte und mir mitgeteilt, dass ich zu ihm kommen kann. Ich war erstmal völlig überrascht, weil ich nicht damit gerechnet habe eine Rückmeldung von jemandem zu erhalten, den ich überhaupt nicht kenne. Das hat mich so überrascht, dass ich erstmal total verunsichert war. Aber es hat geklappt. Aber das sind so ganz wenige Ausnahmefälle von Kommunikation zwischen Unbekannten, wo die Leute sich einen Vertrauensvorschuss geben. Das auch völlig grundlos, denn die Gründe müssen auch erst kommuniziert werden, bevor es sie gibt. Da passiert die Internettrollerei tatsächlich nicht mit Deprimierung, sondern mit Beglückung.

Michael: Wie kam es eigentlich dazu, dass du beim Sowi-Stammtisch gelandet bist?

Klaus: Ich habe René in Bielefeld bei einem Vortrag von Johannes Schmidt über den Zettelkasten von Niklas Luhmann, anlässlich einer Ausstellung in der Kunsthalle Bielefeld, kennen gelernt. Der mich dann zum Podcast eingeladen.

Michael: Was machen solche Leute wie René eigentlich. Wieso podcasten die? Es handelt sich teilweise dabei ja um Wissenschaftler, die an der Universität arbeiten und dadurch vergesellschaftet sind. Was haben die für ein Interesse daran noch zusätzlich Podcasts zu machen? Bzw. welche Sinnkonstruktionen verbergen sich dahinter?

Klaus: Ich weiß nicht, ob man da noch gut weiterkommt, wenn man da nach Interesse fragt. Der Grund ist nicht das Handeln der Menschen sondern die Faszination für die Kommunikation. Ich kann mir vorstellen, dass diese Art der Verwicklung in Kommunikation durch Social Media etwas sehr faszinierendes hat, weil man etwas tut, das man so nicht kennt und dessen Folgen man nicht vorhersehen kann. Das hat etwas spannendes. Die Unvorhersehbarkeit der Folgen erzeugt Neugierde.

Michael: Andererseits lassen sich dann auch wieder Folgen beobachten, auf die sich niemand einlassen möchte.

Klaus: Klar. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Wenn man die Faszination ernst nimmt, ohne die Folgen genau zu kennen ist es schwer, die Folgen zu beurteilen, wenn es zu ihnen kommt. Kommunikabilitätsprobleme erlegen dir ja auch Zumutungen auf. Du kannst nicht nur kaum sagen, was du siehst und was du hörst, sondern auch kaum bewerten und reagieren. Eine ganz gewöhnliche Verhaltensweise ist ein Immunverhalten. Indem du dich etwa auf völlig unhaltbare Positionen zurückziehst, indem du Abwehr betreibst, indem du Empörung und Geringschätzung äußerst. Ausweichen, Abweichen, Bagatellisieren, Marginalisieren oder sonst etwas. Da hängt das eine mit dem anderen zusammen.

Zurück zu Wissenschaft ohne Organisationszwängen. Wir können ja auch mal über Raumfahrt nachdenken. Ich könnte mir schon vorstellen, das etwa so eine Fahrt zum Mars gerade dann, oder vielleicht überhaupt Raumfahrt, gerade dann umso besser gelingt, wenn da nicht immer alles tausendfach geprüft wird. Eine Raumfahrt zum Mars. Egal ob nun NASA oder die europäische Weltraumorganisation, es handelt sich jeweils um gigantische Apparate, die sich selbst unterhalten und für alles eine Zuständigkeit haben. Für alles gibt es dort jemanden, der für etwas verantwortlich ist. Tausendfach muss dort alles kontrolliert und geprüft werden. Es gibt tausend Leute dort, die sich aus diesem oder jenem Grund für wichtig oder andere für unwichtig halten. Es herrscht dort ein Selektionsdruck der Depremierung. Das scheinen mir die Gründe dafür, weshalb man so eine Fahrt zum Mars eigentlich garnicht hinkriegt. Nicht etwa geht es nicht, weil es kompliziert oder komplex ist, sondern weil die Komplexität nicht aufgelöst werden kann. Die Komplexität muss sich dort immer irgendwelchen Kontrollzwängen unterwerfen, daher geht vieles nicht. Wenn ich mir nun vorstelle, es könnte vielleicht ohne Organisationszwänge gehen… gegenwärtig können wir uns das empirisch nur schwer vorstellen.

Michael: Hast du eine Idee, was in den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften möglich sein könnte?

Klaus: Ja. Eine spekulative Überlegung, die ich nicht sehr ernst nehme, über die wir aber trotzdem reden können wäre das Problem, dass die Soziologie sich immer dafür rechtfertigen muss, wozu sie gut ist. Soziologie ist kein Ausbildungsberuf. Schon in den 90er Jahren als ich studiert habe, bemerkte ich, dass es immer wieder dämliche Ausreden gibt, weshalb sie denn doch für irgendetwas gut sei. Das beste was ich erlebt habe war 1996/1997 eine Verbleibsstudie über Absolventen des Faches, die vom Sozialamt finanziert wurde. Die Studie endete mit dem optimistischen Ergebnis, dass man doch sagen kann, dass die berufliche Integration ja doch toll ist. Finanziert wurde diese Studie eines Absolventen vom Sozialamt. Das konnte man aus der Danksagung ablesen. Das ist genau der Punkt. Die Sozialwissenschaften, mal abgesehen von Pädagogik oder Psychologie, eigentlich keinen besonderen Grund haben, außer ihren eigenen Nachwuchs auszubilden. Ein Professor der Soziologie bildet eigentlich nur den nächsten Professor für Soziologie aus.

Michael: Man könnte auch sagen, die Soziologie entzieht sich einem Zweckrationalismus.

Klaus: Genau, sie entziehen sich irgendwie. Und wenn sie das nicht tun, geraten sie in irgendwelche Peinlichkeiten, oder Unhaltbarkeiten um die Leute bei Laune zu halten. Ich kann mir nun vorstellen, dass wenn man diese Organisation weglässt, die Soziologie eine Entfaltung finden könnte. Wenn sie nicht mehr nur eine Textwissenschaft wäre. Wenn Soziologie nicht mehr nur etwas ist, das sich über das wissenschaftlich korrekte Verfassen von Texten vorstellt. Wenn also nicht mehr nur Texte für ein Archiv oder eine Bibliothek geschrieben werden. Im Studium habe ich das irgendwann nur noch als Formulareausfüllen gesehen. Jede Hausarbeit war eigentlich nichts anderes als ein Formular, dessen Muster ich selber mitkreieren sollte. Ich hatte immer ein unsichtbares Formular auszufüllen. Jetzt ist das Studium das erst recht geworden, denn es geht nur noch darum Studierende möglichst schnell durchzuschleusen. Dadurch hat die Soziologie eigentlich kaum eine Chance, weil sie nicht sagen kann wozu das gut ist. Es kommt erschwerend hinzu, dass in der Soziologie inzwischen alles besprochen wird und die Methoden… es gibt kaum noch den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit innerhalb der Wissenschaft bezüglich methodischer Verfahrensweisen. Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit wird nur noch über Massenmedien ausgetragen, aber nicht in der Wissenschaft selber. Jedenfalls wird der Ball da sehr flach gehalten.

Michael: Ich würde zustimmen. Es gibt unterschiedlichste Methoden und niemand bildet sich ein, alle Methoden zu kennen und diese jeweils beurteilen zu können. Es gibt ein Nebeneinander, jeder konzentriert sich auf seine Anliegen und dann ist es gut.

Klaus: Genau. Was eben auf einer Tagung nicht mehr gesagt werden kann ist, dass der Herr Professor, oder der Kollege etwas völlig unwissenschaftliches sagt.

Michael: Wobei ich das auch schon erlebt habe. Wobei diese Vorwürfe dann von alteingesessenen Professoren mit großem Namen vorgetragen wurden, die sich das herausnehmen konnten, weil sie keine Karriereinteressen mehr hatten.

Klaus: Ich komme zu dem Ergebnis, dass es für die Soziologie vielleicht besser wäre, wenn sie sich nicht als eine solche Art von Wissenschaft vorstellen müsste. Wenn sie also die Nichtwissenschaftlichkeit ernst nehmen könnte. Auch das ist etwas, worunter ich im Studium sehr gelitten habe. Weshalb muss eigentlich immer alles wissenschaftlich sein? Es kommt doch darauf an, ob es klug ist und nicht darauf, ob es wissenschaftlich ist. Wenn man bedenkt, was alles unter Wissenschaftlichkeit firmiert! Da kommen die dümmsten Sachen dabei heraus.

Michael: Vielleicht macht es mehr Sinn in Wissenschaften wie der BWL beispielsweise, in der es ein bestimmtes Modell von der Gesellschaft gibt, das als Konsens gilt und von dem ausgehend deduktiv Ableitungen gebildet werden können und in dem sich demnach alles auf bestimmte Prämissen zurückführen lässt, die Konsens sind. Unter dieser Bedingungen kann es richtig oder falsch geben. Wenn sich nicht von grundsätzlichen Prämissen ausgehen lässt, was in der Soziologie offensichtlich nicht der Fall ist, müsste man eben andere Möglichkeiten finden weiter zu kommunizieren.

Klaus: Es wird immer wieder festgestellt in der Soziologie, ganz egal um welche Gegenstände, Bindestrichsoziologien oder Theorien es geht. Es gibt keine einheitliche Definition, es gibt keinen Konsens. Das ist der erst Satz in jedem Aufsatz. Oder nur sehr wenig Einvernehmlichkeit in irgendetwas.

Michael: Selbst bei Luhmann findet man im ersten Satz von Soziale Systeme nur, dass er nachfolgend davon ausgeht, dass es soziale Systeme gibt. Da steht nicht wie es denn tatsächlich sei, oder was die Wahrheit ist und dass er uns nun die Welt erklärt.

Klaus: Ich kann mir vorstellen, dass eine Soziologie erst dann gewinnen könnte, wobei ich diesen Gedanken nicht sehr hochhängen möchte, wenn sie sagen kann, dass sie die Organisationszwänge nicht braucht. Wir brauchen das Gespräch. Etwa wenn die künstliche Intelligenz kommt. Wenn die Mitteilungsfähigkeit von antwortfähigen Automaten immer besser wird. Wenn Automaten sich an Kommunikation, insbesondere Internetkommunikation, beteiligen. Gerade unter dieser Voraussetzung, bei der nicht mehr gewusst wird, ob es sich um parasoziale Beobachtungsphänomene hält, wenn nicht mehr klar ist, ob Kommunikaton stattfindet oder nicht. Kommunikation findet ja dann statt, wenn ich eine Bedingung ins Gespräch gebe, von der ich durch den Vollzug des Gespräches feststellen kann, dass diese Bedingung kommuniziert wurde. Nicht etwa, indem sie bestätigt wurde, sondern indem ich eine Bedingung als Störung anmelde und dann feststelle, dass auf diese Störung reagiert wird. Dann kann ich sehr zuverlässig feststellen, dass Kommunikation stattfindet. Nehmen wir das einfache Beispiel des Bankautomaten. Der Bankautomat sagt, dass ich meine Karte eingeben soll. Das ist eine Mitteilung. Ich kann nichts anderes tun, als meine Karte einzugeben. Auf anderes reagiert der Automat nicht. Ich kann den Ablauf des Automaten nicht stören. Das heißt, es findet keine Kommunikation statt, nur ein hin und her von Mitteilungen. Wenn sich nun tatsächlich Algorithmen gegenseitig zur Voraussetzung machen und sich gegenseitig trainieren kann ich mir vorstellen, dass ein Antwortverhalten herauskommt, das störanfällig ist. Dann könnte mit künstlicher Intelligenz Kommunikation möglich sein.

Michael: Wo kommen nun die Soziologen ins Spiel?

Klaus: Wenn Zweifelsfälle auftauchen! Wenn du nicht mehr weißt, ob es Kommunikation ist, oder nicht.

Michael: Wenn wir uns nich mehr sicher sind dann brauchen wir den Experten. Dann kommt der Soziologe und erklärt uns: “Jetzt findet Kommunikation statt!”

Klaus: Nein, nein. Der sagt nicht, dass er es weiß. Der sagt: “Lass uns mal was probieren.”. Genau dieses Experimentieren. Genau hier liegt die ethische Blockade von Soziologen. Sie dürfen keine Experimente machen, weil sie sagen, dass Kommunikation durch handelnde Subjekte vonstatten geht, weshalb sie mit diesen handelnden Subjekte keine Experimente machen dürfen. Sie dürfen das nicht, weil sie immer sagen, man müsse doch auf Menschen irgendwie Rücksicht nehmen. Wenn wir es aber mit veränderten Bedingungen zu tun haben und nicht mehr wissen, ob wir es noch mit Menschen zu tun haben oder nicht, dann spricht nichts dagegen Experimente zu machen.

Michael: Ich sehe auch nicht, weshalb grundsätzlich sehr viel dagegen sprechen würde, außerhalb von bürokratischer Organisation. Es gibt viele Dinge die gemacht werden könnten un die Erkenntnisse hervorbringen könnten, die jetzt allerdings nicht gemacht werden können, weil sie nicht als wissenschaftlich gelten.

Klaus: Im Studium sind wir mit ganz großen Warnschildern an die teilnehmende Beobachtung in der Ethnologie herangeführt worden. Es wurde gesagt, dass die verdeckte teilnehmende Beobachtung eigentlich nicht zulässig sei, weil du gegenüber den Menschen die du triffst eine Information vorenthältst. Nämlich die, dass du wissenschaftlich interessiert wärst, in der Begegnung jedoch andere Interessen vorgaukelst.

Michael: Tatsächlich? Ich hätte eher vermutet, dass mit Objektivitätskriterien gegen die teilnehmende Beobachtung argumentiert würde.

Klaus: Es wurde gesagt, dass man die Leute eigentlich belügt. Es stellt sich andersherum die Frage, was eigentlich daraus ableitbar sei, im Sinne der Wissenschaftlichkeit. Die teilnehmende Beobachtung wurde natürlich trotzdem betrieben. Allerdings immer nur unter der Voraussetzung des Vortragens eines ethischen Warnschildes. Das musste geäußert werden und dann ging es eben doch.

Michael: Vor einiger Zeit habe ich eine Studie von Sebastian Moser zum Thema Flaschensammler gelesen, in der ich genau das beobachten konnte. Sebastian Moser hat mit Flaschensammlern Gespräche geführt und diese heimlich aufgenommen, weil es ihm wohl auch peinlich war, den Flaschensammlern zu sagen, dass er Wissenschaftler ist und gerne von ihnen erzählt bekommen möchte, wieso sie Flaschen sammeln. In seiner Studie hat er genau das kurz dargestellt und damit war es dann gut.

Klaus: Es genügt die ethischen Vorbehalte vorzutragen und dann ist immer schon alles ok. Dann geschieht, was eben doch geschehen kann: Das heimliche Aufnehmen von Tonbandmitschnitten. Oder auch Filmaufnahmen, was ich mal in der Ethnologie gemacht habe. Was ich nun meine ist, dass sich Soziologen und Ethnologen über die Kontingenz irritieren un deshalb keine Experimente mit Menschen machen dürfen. Die Lösung finden sie darin, sich den Organisationszwängen auszuliefern, die dann selbst dafür sorgen, dass die Karawane weiterzieht. Soviel man sich auch immer über Ethik irritieren möchte. Das fand ich durchaus belästigend, warum kommt eigentlich ein Professor dazu zu, mich mit ethischen Bedenken zu konfrontieren um dann zu sagen, die Hauptsache sei, mal darüber gesprochen zu haben. Es wird dann ja doch gemacht, denn die Neugierde ist ja nicht nur bei den Medizinern und Physikern, den Genetikern und Humanbiologen, sondern eben auch bei den Soziologen. Diese Neugierde lässt sich durch Nichts unterdrücken. Also dann doch das Machbare zu machen. Ich kann mir vorstellen, dass die Soziologie eben dann eine Chance hat, wenn sie sich nicht mehr retten muss, über Organisationszwänge, sondern sagen kann, dass sie kein ethisches Problem mehr hat. Kommunikationosexperimente gelingen umso besser, weil die Begegnung selbst etwas anderes zur Voraussetzung hat, als die Rechtfertigung von Handlung. So wie Sebastian Moser. Er begegnet den Leuten und stellt fest, dass er sein Handeln nicht rechtfertigen kann, wenn er heimliche Tonaufnahmen macht. Das Problem hat er nur deswegen, weil er meint die Rechtfertigung von Handlungen sei das, worum es geht. Er tut es dann, indem er es gegenüber dem Professor äußert. In der Begegnung mit den Leuten selber hat er dieses Problem eigentlich garnicht. Den Leuten war es wohl eigentlich egal, wer da vor ihnen stand. Da zeigt sich ein Misstrauens- und Vertrauensproblem in der Begegnung. Es kann vielleicht sein, dass wenn wir alle Aufnahmegeräte ständig mit uns herumtragen, die Frage nach der Rechtfertigung so groß nicht mehr ist. Spätestens dann, wenn soetwas wie Google Glasses aufkommt. Spätestens dann ist die Frage nach der Rechtfertigung vielleicht nicht mehr das größte Problem, sondern nur noch, wo der Ein- und Ausschalter ist.

Michael: Kürzlich hatte ich den Gedanken auch, als ich in der U-Bahn gefahren bin. Ich habe Eltern dabei beobachtet, die sich mit ihrem Kind unterhielten und versuchten, erzieherisch tätig zu sein. Jeden Tag geschehen irgendwelche haarsträubenden Sachen bei denen ich schon öfter gedacht habe, dass man das mal aufnehmen müsste und analysieren. Vielleicht bekäme das ja irgendjemand mit, der sich so seltsam verhält und lernt etwas daraus.

Klaus: Heute saß ich draußen im Hof und habe Periscope installiert. Bei Periscope kann man einfach irgendwelchen Leuten zugucken, die im Auto sitzen. Die richten die Kamera auf sich und lassen den Livestream laufen. Periscope ist eine App, die man auf einem Smartphone, oder Tablet installieren kann. Wenn man die App startet kann man andere beobachten oder selbst beobachtet werden. Du kannst denen zugucken, wie sie vor dem Lenkrad sitzen und sich in der Nase boren. Oder sie sitzen auf der Couch und rauchen. Sie werden nicht heimlich gefilmt, sondern sie richten die Kamera auf sich. Man kann das alles für Quatsch halten und das ist auch ganz viel Quatsch, sicher. Aber das ist eigentlich keine kluge Antwort mehr. Soetwas könnte die Voraussetzung dafür liefern, dass die Rechtfertigung für Handlungen und die Rechtfertigung für solche Probleme, die sich der Soziologe macht, nicht mehr das große Problem sind. Dann ist die Frage, kann man nicht sehr wohl Experimente machen, weil man eben keine Experimente mit Menschen macht, sondern nur noch Experimente mit der Kommunikation, was etwas ganz anderes ist. Das ist das große Handicap, das Soziologen gegenwärtig noch immer haben, weil sie sagen, soziale Experimente zu machen hieße, Experimente mit Menschen zu machen. Das stimmt eben theoretisch nicht. Das heißt eben nur, Experimente mit Kommunikation zu machen. Menschen sind im Ablauf der Kommunikation überhaupt nicht vorhanden.

Michael: Ich kann das nachvollziehen. Ich finde das auch völlig richtig eigentlich. Andererseits habe ich eine Stimme im Hinterkopf, die mich davor warnt. Vielleicht vor meiner eigenen Macht. Wie wir vorhin schon besprochen haben: Wir stellen bei Twitter immer wieder fest, dass es irgendwelche Leute gibt, die lassen sich in Kommunikation verwickeln und reflektieren das offensichtlich garnicht und geraten in lauter Dummheiten. Die verstehen überhaupt nicht, was da abläuft. Man kann ja schon vermuten, dass man selbst einen anderen Reflexionshorizont hat, als irgendwelche Leute, die man in der U-Bahn beobachten kann. Vielleicht läuft man tatsächlich Gefahr, durch nichtintendierte Nebenfolgen, die irgendwelchen Sachen auszusetzen, von denen man im nachhinein denken würde, es wäre besser gewesen, sie denen nicht auszusetzen.

Klaus: Sicher, das kann schon sein. Ich würde dagegen den Einwand halten, dass es soziale Ungleichheit in aller Zukunft geben wird. Man kann Chancengleichheit für wünschenswert halten, aber ich würde andersherum fragen, wie Chancenungleichheit zustande kommt. Ich würde sagen, gerade wenn wir über diese Art der Kommunikation reden, über Social Media, die soziale Ungleichheit wird in Zukunft nicht darüber Zustande kommen, weil die Leute arm sind, oder weil sie eine schlechte oder falsche Schulausbildung haben, oder weil sie aus unteren sozialen Schichten kommen oder soetwas. Sondern weil sie sich auf eine Art von Faulheit einrichten, nämlich auf Wohlstandsbequemlichkeit, die genau darin besteht, die Verwicklungen, auf die sie sich einlassen nicht zu reflektieren. Sie machen einfach unreflektiert von Rechten gebrauch und tun so, als wäre das alles worauf es ankommt. Die also sozusagen in die Falle laufen, die sich auftut, wenn das Recht auf Meinungsfreiheit niemand mehr bestreitet und jetzt auf einmal etwas anderes problematisch wird oder reflexiv wird. Und die Faulheit, die dann darin besteht zu sagen, man müsse sich darum nicht kümmern. Was ja stimmt. Man muss das nicht tun. Dadurch geraten wir in die Abhängigkeit von Automaten. Ich kann mir das schon vorstellen, dass dieses Social Media eine Affenfalle ist. Affenfalle heißt, dass du verwickelt wirst in Zusammenhänge aus denen du dann auf einmal nicht mehr rauskommst, was dann vielleicht sogar dazu führen kann, dass die Leute sich das Leben nehmen, oder sonstirgendetwas. Weil sie sich verwickelt haben. Das will ich nicht bestreiten, aber das kann man auch nicht verhindern. Sich daraus ein ethisches Problem zu machen ist deshalb nicht zulässig, weil wir eine Lösung suchen können. Wir können einen Podcast machen und genau darüber sprechen. Wir können Social Media als eine Lösung für solche Probleme wählen. Ob das dann gelingt… Wir haben leider nicht die Möglichkeit zu sagen, dass der liebe Gott entscheidet. Im Prinzip könnten wir uns aber darauf verlegen, oder sagen, die Gesellschaft entscheidet. Es ist nicht im Bereich deiner Möglichkeiten, deines Handelns, deines Sprechens, es liegt nicht in der Macht deines Tuns, irgendwelche besonderen Dinge, irgendwelche wichtigen wichtigen, entscheidenden Dinge, zu ermöglichen oder zu verhindern.

Michael: Jetzt mal angenommen ich beobachte irgendetwas, finde das total faszinierend und bilde mir ein ich wüsste, wieso diese Beobachtung zustande kommt und könnte dafür eine Erklärung liefern. Was genau habe ich zu bieten? Unter welcher Bedingung kann das auf Erfolg oder auf Interesse stoßen? Oder auch: Unter welcher Bedingung sind Leute bereit bei dir im Blog zu kommentieren? Es entstehen ständig Diskussionen. Oder welcher Bedingung ist jemand bereit, sich mit mir unter Twitter zu unterhalten… ich verstehe es nicht. Eigentlich kann man ja nur versuchen es in Erfahrung zu bringen.

Klaus: Ich würde das zurechnen auf die Faszination für das Gelingen. Und darauf, dass man für Faszination selber eigentlich keine Erklärung hat. Wir würden Faszination in der Regel psychisch zurechnen und sagen, die Faszination für Kommunikation wird durch Menschen erzeugt. Durch die Voraussetzungen, die Menschen mitbringen. Ich glaube das leuchtet mir nicht ein. Die Faszination für Kommunikation wird durch Kommunikation selber hergestellt. Das geschieht über die Latenz, also eine Art Ausfächerung, Ausfaltung, oder wie auch immer man das bezeichnen möchte, von latenten Möglichkeiten. Da entsteht die Faszination für Kommunikation. Ich würde das so betrachten: Wir haben uns in der modernen Gesellschaft ein Handicap eingehandelt, durch die Kompetenz der modernen Gesellschaft. Die Kompetenz der modernen Gesellschaft hat sich auf ihrer Rückseite eine Inkompetenz eingehandelt, nämlich die Frage nach dem Apriori, das eben nicht mehr nur ein Apriori des Erkennens ist, wie das die Philosophen sagten, sondern ein Apriori des Handelns. Wir würde ja sagen, das Apriori des Handelns ist der bewusst sich setzende Mensch. Das ist eben ein Irrtum, das stimmt nicht. Daran hat übrigens auch die Psychoanalyse nichts entscheidendes geändert. Denn die Psychoanalyse hat ja nur versucht auch das Unbewusste, auch das Triebhafte, das Affekthafte, auch das noch in die Rationalitätssemantik einzuführen. Das Ergebnis war, Sloterdijk hat das mal gesagt, wo er auch Recht gehabt hat, dass die Psychoanalyse eben keineswegs eine Kränkung des Subjekts darstellte, sondern ganz im Gegenteil, eine ganz besondere Wertschätzung. Auch noch das Triebhafte, das Unbewusste, das Affekthafte, das nicht mehr Kontrollierbare kann in das Gespräch hineingeführt werden und jetzt kann ich selbst mich umso besser zur Kinoleinwand meines eigenen Blickes machen. Die Psychoanalyse hat in dem Maße, in dem sie behauptet hatte, du selbst seist nicht Herr im eigenen Hause, die Wertschätzung für und die Erwartungen an das Handeln des Subjektes verkompliziert und gesteigert. Es kann sein, dass das alles ein Irrtum ist und wir stattdessen ein Apriori der Handlung haben. Das Apriori der Handlung ist Kommunikation.

Michael: Das kann gut sein, aber ich weiß nicht, woher wir das wissen könnten.

Klaus: Durch die Kommunikation selber. Psychisch gesehen kommst du darauf nicht von selbst. Du kannst nur darauf kommen, indem du Kommunikation reflektierst, die anfängt darüber Auskunft zu geben. Das ist eine Möglichkeit die deshalb entsteht, weil wir uns eine gewisse Inkompetenz in der Modernen Gesellschaft eingefangen haben, nämlich, dass wir keinen Gott mehr haben. Deshalb können wir uns über Gesellschaft irritieren, bzw. über Kommunikation. Kommunikation und Gesellschaft waren vor Darwin und Marx kein übermäßig relevantes Problem. Nicht nur in der Wissenschaft nicht, sondern überhaupt in der Gesellschaft nicht. Warum wurde es seit Marx und Darwin, besonders auch seit Darwin zum Problem? Die Antwort lautet, dass spätestens mit Darwin ein Schlussstein gesetzt wurde in der Frage, wie wir eigentlich die Welt erklären können, wenn wir keinen Gott annehmen. Durch die sich selbstorganisierende Natur. Also durch die Evolution. Damit wurde ein Schlussstein gesetzt. Jetzt können wir sagen auf einen Gott verzichten zu können. Das ist der Grund, aus dem viele Atheisten im 17. und 18. Jahrhundert viele Sprechschwierigkeiten hatte, weil sie nicht wussten, wie die Bäume wachsen, wenn sie danach gefragt wurden. Nicht nur weil der Atheismus mit dem Verdächtigungsgeschehen verbunden war, sondern weil er ein epistemologisches Problem hatte. Wie können wir annehmen, dass die Welt möglich ist, wenn Gott sie nicht geschaffen hat. Spätestens mit Darwin wurde diese Sache beendet und es wurde gesagt, dass es nun keinen Gott mehr zur Erklärung brauche. Damit haben wir uns das Handicap eingehandelt annehmen zu können, dass Erkenntisvermögen – Erkenntnis, Wissen, Handlung, durch sich selbst immer schon in genügender Weise vorausgesetzt sei, um erklären zu können, was nicht stimmt. Das kriegen wir jetzt in den Blick, weil die Komplexität der Wissensprodukte, die dann entstanden sind seit Darwin und seit Marx nicht mehr zulassen, dass wir einfach sagen können, mit Glauben, Erkennen, Wissen und Handeln könnte es schon klappen. Die Kubakrise hat es gegeben… Die Welt kann untergehen… Es gibt so diese Rede vom menschengemachten Klimawandel… man kann doch schon erkennen, dass die Menschen das nicht einfach ändern können! Und wenn die Menschen das nicht einfach ändern können, dann kann man auch nicht so einfach glauben, dass sie das so hergestellt haben. Das heißt, wir haben ein anderes Apriori für Handeln und das ist dann die Gesellschaft selbst.

Michael: Ich finde, dass das ein guter Beweis ist, denn ich auch sehr gut nachvollziehen kann. Es erfordert dennoch noch immer eine starke Überwindung der eigenen Überzeugungen, gegen die man sich auch schlecht wehren kann, um sich auf das Neue einzulassen. Das ist sehr schwierig.

Klaus: Ganz genau! Da das nicht so einfach geht gibt es diese ganz starken Immunreaktionen gegen das Aufkommen einer Technik, die das jetzt eigentlich nahelegt. Die legt nahe zu sagen, dass du glauben kannst was du willst, dass du erkennen kannst, was du erkennen kannst, dass du handeln kannst, wie es geht, dass du wissen kannst, was beweisbar ist. All das entscheidet eben eigentlich garnichts mehr. Sondern jetzt kommt es nicht auf dich an, sondern auf die Antwort. Die Antwort kommt, wenn du dich an Kommunikation beteiligst. Die Antwort, also die Reflexion ist das Entscheidende und nicht so sehr dein Tun, deine Meinung, dein Handeln… Warte auf Antwort, statt dich dafür zu engagieren, irgendetwas durchzusetzen. Das lässt sich logisch nicht plausibel machen, es lässt sich rational nicht plausibel machen, es lässt sich moralisch nicht plausibel machen, es lässt sich mit keinem Argument glaubhaft machen und weil das so ist passiert eine Technik, die das jetzt aufzwingt. Ich schlage vor, sich zu ergeben. Ergib dich. Diejenigen, die zuerst die Bereitschaft dazu haben sind am Anfang sozusagen Außenseiter, die Schwächlinge, das sind die Ausgestoßenen. Aber ich kann mir vorstellen, dass diejenigen, die die Bereitschaft haben, sich nach soeiner Ordnung zu fügen auch eine entsprechende Reflexivität leisten und auch erbringen können. Statt in irgendwelchen abgebrannten Tempeln die Asche zu sammeln und sie zu verwalten, zu sagen: OK! Lassen wir den ganzen Quatsch mal beiseite.

Michael: Ja ja… Wobei du auch schon gesagt hast, dass Prototypen zwar immer benötigt werden, sich jedoch nie durchsetzen. Das bedeutet, wenn man etwas neues versucht, ist das zum Scheitern verurteilt.

Klaus: Genau! Richte dein Handeln auf Scheitern aus. Oder auf die sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass es scheitert. Der Punkt ist dann: Beobachte alle anderen. Beobachte jetzt nicht dich selbst, sondern beobachte alle anderen. Wie kommen die mit dem selben Problem zurecht. Und jetzt suche denjenigen heraus, der mit dem Problem auch nicht so gut zurecht kommt. Der könnte dein Lehrer sein. Von denen zu lernen, die auch lernen wollen und nicht von denen zu lernen, die es schon wissen. Das würde ich als Vorschlag ausgeben. Wenn du mich fragen würdest, wie das gehen soll, würde ich sagen, dass das genau der Punkt ist. Rechne mit Nichtwissen, dass Inkompetenz, dass Scheitern wahrscheinlicher ist, als alles andere. Die Voraussetzungen für Wissenschaft ohne Organisationszwänge sind unbekannt, bzw. nicht sehr gut verstehbar, nicht sehr gut erkennbar. Über die können wir nicht sehr gut sprechen und die kann auch niemand einfach herstellen. Die kannst du nicht einfach bestellen. Die kannst du auch nicht einfach erfinden. Ich kann mir vorstellen, dass die Gesellschaft gegenwärtig dabei ist, die Voraussetzung dafür zu erarbeiten. Als Zeithorizont würde ich dafür 30 bis 40 Jahre veranschlagen. Wenn ich ein alter Mann bin und die Uhr sehr laut ticken höre, vielleicht gibt’s dann mal was klügeres, was wir dann darüber sagen können. Intelligenz lässt sich deprimieren, aber Intelligenz verhält sich wie Unkraut.

Michael: Das ist ein angemessenes Schlusswort für heute. Vielen Dank und auf Wiederhören!

Klaus: Schön, dass wir gesprochen haben! Tschüss!

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